Fernsehen von nebenan. Bilder des Umbruchs im Lokalfernsehen (1990-95). Präsentationen und Diskussionen
Foto: ©HOY-TV
Dr. Judith Kretzschmar und Prof. em. Dr. Rüdiger Steinmetz
Leipziger Institut für Heimat- und Transformationsforschung, LIHT
Erstes Halbjahr 1993: In Hoyerswerda und der ganzen Lausitz wird über die Zukunft der Braunkohle gestritten, das Brikettwerk geschlossen; Abwanderung, Arbeitslosigkeit. Die Gemeinde- und Gebietsreform schlägt hohe Wellen. Die Antifa entert den Stadtrat. Das „Hoyerswerdaer Tageblatt“ geht in der „Sächsischen Zeitung“ auf. Eine Hundertjährige im Pflegeheim will lieber sterben, weil man sich nicht genügend um Alte kümmern kann. In Auerbach im Vogtland wird ein neueröffnetes Einkaufszentrum gestürmt. Im erzgebirgischen Niederlauterstein nennt ein westdeutscher „Investor“ die Bewohner „Ur-Einwohner“, die sich mal entscheiden müssten. In Laubusch (Lausitz) berichtet ein Pfarrer über die Ankunft der ersten Auslandsdeutschen aus Kasachstan; Umweltschäden werden erkennbar und eine deutsch-deutsche Städtepartnerschaft beschlossen. In Leipzig lehnt der Runde Tisch das Sponsoring einer Rock-Veranstaltung durch Coca-Cola ab; der Marktplatz liegt zwei Tage vor der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 voller Westzeitungen.
Die Kamera ist nah dran und überall dabei, und die unbefangenen Frager sind Nachbarn ihrer Zuschauer, stecken selbst in den Prozessen, die sie festhalten und vermitteln, fordern Feedback und Positionierung heraus. Die Programme der lokalen Fernsehveranstalter in Sachsen enthalten bewegte und bewegende Nah-Bilder des Vereinigungsprozesses, Kontinuitäten und Brüche von Tradition und Sozialisation, Euphorie und (allzu schnell) enttäuschte Hoffnungen. Bilder, die in keinem öffentlich-rechtlichen Fernseharchiv zu finden sind.
Lokalfernsehen ist Heimatfernsehen im besten Sinne, es ist lokales Gedächtnis und kultureller Speicher. Die lokalen Fernsehprogramme der Scharnierzeit von 1990 bis 1995 zeigen Verluste und Suche nach Neuem und begleiten den Beginn des Vereinigungsprozesses. 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Vereinigungstag dauert dieser Prozess noch immer an, und es stellen sich unbeantwortete, verdrängte Fragen neu. Vieles von dem, was heute aufbricht, wurde vor 25 bis 30 Jahren unter- oder falsch bewertet, in der Hektik des Umbruchs missachtet, liegengelassen,
unter den Teppich gekehrt, überdeckt durch allzu viele Herausforderungen, Verheißungen und Möglichkeiten. Mit Hilfe des Lokalfernsehens können wir heute diese Prozesse wieder erleben, noch einmal sehen und für eine Neubewertung fruchtbar machen.
Die Leipziger MedienwissenschaftlerInnen Judith Kretzschmar und Rüdiger Steinmetz haben einen Querschnitt aus lokalen sächsischen TV-Programmen zusammengestellt; sie ordnen ein und hören den Erinnerungen und heutigen Bewertungen der Zeitzeugen zu.
Heimat heute – Jeder hat sein Nest im Kopf – Dieses Projekt wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts. Es wird im Rahmen des Förderprogramms „Revolution und Demokratie“ durch die sächsische Staatsregierung gefördert.
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Leipziger Institut für Heimat- und Transformationsforschung
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